Als ich die Tür öffne, ergießt sich vor mir das Blau des Bosporus – am Horizont flimmert Asien. Weiße Yachten und winzige Fischerboote tanzen lustig auf den seichten Wellen, riesige Containerschiffe schieben sich schwerfällig aneinander vorbei, kleine Meeresbusse schwimmen Pingpong zwischen den Kontinenten, dicke Kreuzfahrtpötte drängeln sich dröhnend in die Szenerie und gehen an der „Istanbul Modern“ vor Anker. Möwen meckern, Katzen kreischen und in der Gasse unter mir zieht der Sahlepverkäufer seine Runden. Hier werde ich die nächsten Wochen leben und arbeiten: Blaumachen von der Projektarbeit in Berlin.
Manzara Istanbul macht es als eine der wenigen Initiativen berufstätigen Architekten und Bauplanern möglich, sich im Rahmen eines Stipendiums eine Auszeit vom Projektalltag zu nehmen und in das Leben der sich rasant entwickelnden Metropole einzutauchen. Erdogan Altindis und Gabriele Kern-Altindis stellen nicht nur ein wunderbares Wohn- und Arbeitsatelier zur Verfügung, sondern erleichtern den Zugang zu den vielfältigen Facetten der Stadt durch ein interdisziplinäres Netzwerk an kenntnisreichen und interessierten Menschen aus ganz unterschiedlichen Bereichen.
In meiner Forschungsarbeit „IN ISTanbul“ habe ich mich in den letzten Wochen intensiv mit den vielfältigen Besetzungen und Aneignungen des städtischen Raums befasst. Sie prägen maßgeblich das Gesicht der Stadt. Mit informellen, flüchtigen und improvisierten Strukturen werden täglich diverse Versorgungsnachfragen bedient, Dienstleistungsbedürfnisse befriedigt und neue Existenzen gegründet. Durch performative Praktiken ist ein intensives Flechtwerk an sozialen und wirtschaftlichen Verbindungen entstanden, deren Relevanz auch im gesamtstädtischen Kontext nicht zu unterschätzen ist. Kleine mobile Straßenstände, Dessertwagen, Simitkarren, Schuhputzer und Messerschleifer schwärmen jeden Tag in den städtischen Raum, breiten sich aus und ziehen sich wieder zusammen. Urbane Resträume werden gefüllt und Schwellenräume in Besitz genommen. In der osmanischen Tradition wird seit jeher der städtische Raum als Aktionsfläche betrachtet, die dem privaten Raum ganz selbstverständlich zugeordnet werden kann. Über Nacht werden Häuser gebaut (Gecekondular), Kühlschränke und Tiefkühltruhen säumen die Straßen vor den Bakkals, auf Sofas wird Cay getrunken, an kleinen Tischen wird Tavla gespielt und auf den Verkehrsinseln gepicknickt. Eine vielschichtige Struktur räumlicher Sequenzen von Öffentlichkeit und Privatheit, die sich vom Zentrum eines jeden Hauses über viele Schichten bis in die Mahalles (Stadtquartiere) erstreckt, wahrt aber dennoch stets eine bestimmte Distanz.
Die Abwesenheit ausufernder staatlicher Reglementierungen und das türkische Selbstverständnis der Aneignung städtischen Raums lassen den Stadtbewohnern genügend Freiräume, die Entwicklung in gewissem Rahmen selbst in die Hand zu nehmen und nach ihren eigenen Bedürfnissen zu programmieren. Ziel meiner Arbeit war es, eine Auswahl dieser exzeptionellen Orte zusammenzustellen und zugänglich zu machen, um ihre gesamtstädtische soziale und ökonomische Relevanz zu untermauern. Halten diese gewachsenen Strukturen dem internationalen Investitionsdruck und den veränderten Bestimmungen im Falle eines EU-Beitritts stand? Was lässt sich zukünftig bei der Planung von Architektur und Städtebau aus ihnen lernen?“
Die Arbeitsergebnisse werden in den kommenden Wochen aufbereitet und sollen im Rahmen der 13. Istanbul Biennale „Public Alchemy“ im September dieses Jahres in der Manzara Perspectives Galerie ausgestellt werden.
Mein Dank gilt Gabi und Erdogan und dem gesamten Manzara Team für ein inspirierendes blaues Leben am Bosporus.
Hendrik Bohle 11.03.2013